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Books

Cover
Federspiel, Jürg
Zürich
1982
Titel

Die Ballade von der Typhoid Mary

Abstract

Im Januar 1868 trifft das Auswandererschiff „Leibnitz“ in New York ein. Mit an Bord ist die 12-jährige Maria – und mit ihr ein schädlicher Gast namens Typhus. Der Schweizer Autor Jürg Federspiel verfolgt Marias Weg zur berühmt-berüchtigten Typhus Mary.

SF-Referenz

CM-200106

RFID

200106

RFID-Status

nicht zugewiesen

Buch-ID

200106

Erstellt

25.02.2021

Letzte Änderung

08.04.2021

Änderung durch

ckaps

Text allgemein

Die Ballade war schon schauerlich zu lesen, bevor die Welt von einem Virus namens Covid-19 befallen wurde. Grund: Sie beruht auf einer wahren Geschichte. Die nordirische Maria Mallon ist nach New York eingewandert und arbeitet zwischen 1900 und 1907 als Köchin. In jedem Haushalt, in dem sie arbeitet, bricht Typhus aus. Doch es dauert Jahre, bis ein Arzt die Köchin als Trägerin der Krankheit entlarvt. Nachdem sie jeweils tatkräftig mitgeholfen hatte, die Kranken zu pflegen, wanderte sie in der Regel zum nächsten Haushalt weiter. Überall serviert sie ihre beliebte Glace mit Pfirsichen. Leider wäscht sich die Köchin ihre Hände nicht 20 Sekunden lang nach dem Toilettengang, sondern tendenziell gar nicht. Mary Mallon wird nach der «Diagnose» über zwei Jahre hospitalisiert, bevor sie mit Auflagen in Freiheit entlassen wird. Fünf Jahre lang taucht sie unter, kocht fröhlich weiter, bis sie erneut entdeckt wird und auf der North Brother Island in lebenslange Quarantäne gesetzt wird. 55 Ansteckungen sind aktenkundig, darunter 3 Tote. Die Dunkelziffer wird hoch geschätzt. Maria Mallon gelangt unter dem Übernamen Typhoid Mary zu einer gewissen Berühmtheit und wird von Journalisten aufgesucht, die gerne über ihre Geschichte schreiben. 1938 stirbt sie an einer Lungenentzündung. Wenn dies keine Vorlage für einen Roman ist! So hat sich denn der Erzähler das wenige Material, das er auffinden konnte, «zu eigen gemacht und die weitere Wirklichkeit erfunden». Entstanden ist das Leben einer Frau, «das – in noch kindlichem Alter – traurig begann, Tiefpunkt um Tiefpunkt überschreitend, und ein stummes, keineswegs lyrisches Ende nahm». Die junge Maria, die sich bei ihrer Ankunft über die Reling werfen wollte, kann in New York Fuß fassen. Sie weiß nicht, dass sie Überbringerin einer Krankheit ist, gesund und robust, wie sie ist. Mit der Zeit muss sie es ahnen. Ihre Taktik: Augen zu und weiterziehen. Sie wird zu einer verfolgten Person mit dem zweifelhaften Ruf einer Todbringerin. Federspiel spitzt die Geschichte zu, indem er sie in den Dienst zu einem behinderten Mädchen beordern lässt. Hier ist ihre Aufgabe, das zu tun, wovor sich alle anderen fürchten: den Tod bringen. Sie lebt jedoch während Jahren zufrieden mit dem Mädchen in Abgeschiedenheit, bis sie mangels «Erfolg» ihres Amtes enthoben wird. Federspiel spannt ein anderes Thema auf, das die Lektüre schwer verdaulich macht: Maria Mallon wird schon jung in die Prostitution gedrängt, um zu überleben. Ihre Ausbeuter – Konsequenz der Geschichte – überleben in der Regel nicht. Die «Ballade von der Typhoid Mary» – vor 30 Jahren geschrieben – erhält im Corona-Jahr 2020 neue Brisanz. Von Interesse ist das Thema der Krankheitsträgerin, die ohne Schuld andere Leute in Gefahr bringt, dadurch aber doch zu einer Gejagten der Gesellschaft wird. Spannend auch, dass die Ärzte lange darüber im Dunkeln tappen, wie die Krankheit überhaupt übertragen wird. Und auch im Roman werden statistische Zahlen aufgenommen, um die Brisanz der Epidemie zu belegen. So gab es 1907 in New York etwa 3467 Typhusfälle, 700 mit tödlichen Folgen. Federspiel erzählt mit schonungslosen Worten eine Geschichte, die sich vor über 100 Jahren abspielte. Wie würde er sie heute erzählen?