Logo Sunflower

Books

Cover
Morus, Thomas
Manesse Verlag
2004
Titel

Thomas Morus, Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia

SF-Referenz

CM-200124

RFID

200124

RFID-Status

nicht zugewiesen

Buch-ID

200124

Erstellt

28.02.2021

Letzte Änderung

25.12.2023

Änderung durch

jconzett

Text allgemein

Es ist das Jahr 1516: Leonardo da Vinci befindet sich bereits im fortgeschrittenen Alter, in Bayern wird eine Vorform des Reinheitsgebot erlassen und in den Niederlanden wird das Werk "Utopia" vom Engländer Thomas Morus veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt kann noch niemand ahnen, dass das Werk die nächsten 500 Jahre Welt- und Literaturgeschichte nachhaltig beeinflussen wird.

"Utopia" ist in Morus' Buch der Name einer Insel, auf der der Seefahrer Raphael Hythlodeus gewesen sein will und die er im Gespräch mit Morus beschreibt. Der Text ist als eine Art philosophischer Dialog aufgebaut. Im ersten Teil beschäftigt sich der Autor mit den Missständen in Europa. Im zweiten Teil werden dann von Hythlodeus die Lebensverhältnisse des mysteriösen Ortes Utopia beschrieben, der in vielen Aspekten fortschrittlicher wirkt als die reale Welt des damaligen Europas. Die Bewohner Utopias leben beispielsweise ohne Privatbesitz gemeinschaftlich in Familienverbänden. Religion und Staat sind strikt getrennt, Männer und Frauen können sich ihr Handwerk, also ihren Beruf, selbst aussuchen und die gesamte Republik lebt zufrieden ohne Geldverkehr.

Zunächst mag dies alles sehr trocken wirken, vor allem auf einen jungen Leser. In Wahrheit jedoch ist "Utopia" nicht der bitterernste, idealistische Weltentwurf eines alten Humanisten. Morus hatte gar nicht vor, seinen Lesern zu zeigen, wie einfach menschliches Zusammenleben sein könnte, wenn jeder mitmachte. Vielmehr ist sein Roman als eine clevere Satire zu verstehen. Morus sah die Probleme, mit denen Europa kämpfte und versuchte, sie mit "Utopia" greifbarer zu machen. Er legte einen Gegenentwurf vor, in dem alles ganz simpel erscheint. Dadurch wird den Lesern das eigene Verhalten bewusst. Aber das Modell "Utopia" ist keine Zukunftsperspektive, es ist nicht zur Umsetzung gedacht.

Dies zeigt allein schon der Name Utopia. Er ist ein Zusammenschluss der griechischen Worte "Outopia", was übersetzt etwa "Nichtort" bedeutet und "Eutopia", also "glücklicher Ort". Damit wird bereits angedeutet, dass es so eine ideale Welt wohl nie geben wird. Und genau so ist der Begriff auch zu gebrauchen. Er beschreibt eine Traumvorstellung von einer Gesellschaft, in der all das funktioniert, was bei uns eben nicht funktioniert.

Die Tatsache beispielsweise, dass es so schockierend für uns scheint, wenn die Bewohner Utopias ohne Geld auskommen, sollte uns zu denken geben. Ist unser Umgang mit Geld, unser monetäres System auf lange Sicht wirklich optimal? Ist es zu spät, zumindest darüber nachzudenken, wie eine Welt ohne Geld funktionieren könnte? Dies ist nur ein Beispiel für die Gedankenanstöße und Gewissensfragen, mit denen "Utopia" seinen Leser konfrontiert.

Der Trend der Utopien und Anti-Utopien dauert seit Morus, also seit einem halben Jahrtausend, immer noch an. Nach wie vor entwerfen wir Alternativ-Welten um uns mit der eigenen auseinanderzusetzen. Nichtsdestotrotz lohnt es sich für jeden Leser, sich an Morus' Originalwerk heranzutrauen. Denn kein anderes Werk bringt einen auf so eindrückliche Weise zur Reflexion über die eigene Welt. Morus war ein Meister darin, auf der Linie zwischen Realistischem und Absurden zu balancieren, sodass man bei jedem neuen Aspekt, der einem über Utopia erzählt wird, erst einmal merkt, wie zweifelhaft unsere Gesellschaft organisiert ist - wie die Dinge sich entwickelt haben. Und genau diese Denkweise ist vor allem im Jahr 2017 auf jeden Fall nötig.

Text Team

Das Modell Utopia – Satire oder ernst gemeint? Wohlstand und leichte Arbeit für alle, ein Liebesleben ohne Konflikte und Kultur von Kindesbeinen an – so muss sie aussehen, die beste aller möglichen Welten. Der von Thomas Morus 1516 erdachte seefahrende Philosoph Raphael Hythlodaeus hat die Insel Utopia ausfindig gemacht, diesen besonderen Hort der Harmonie. Zu einer Zeit, in der Morus’ Zeitgenossen von Krieg und Armut bedrängt waren, entstand ein neues Kapitel der Literaturgeschichte – diese blumige, aber auch oft satirische Reiseschilderung einer fremden Welt.

Der Autor

Thomas Morus, 1477 oder 78 in London geboren, kam nach seiner Ausbildung bei einem Humanisten als Page an den Hof von John Morton, der Erzbischof von Canterbury sowie Lordkanzler war. Morton schickte Morus nach Oxford zum Studieren. Doch statt Kleriker zu werden, gehorchte Morus seinem Vater und wurde Jurist. Nach vier Jahren im Kartäuserkloster heiratete er 1505 Jane Colt, die ihm vier Kinder gebar, aber schon sechs Jahre nach der Hochzeit starb. Als Parlamentsmitglied verdarb er es sich mit König Heinrich VII und konnte erst wieder unter Heinrich VIII politisch aktiv werden.

Nach einer Gesandtschaftsreise und dem Treffen mit dem Humanisten Erasmus von Rotterdam im Jahr 1515 stieg Morus rasch auf: Er wurde schließlich 1529 Lordkanzler. Doch ebenso rasch erfolgte der Abstieg, als er sich den Wünschen des Königs widersetzte, die besonders Scheidung, Wiederheirat und Oberhaupt der englischen Kirche betrafen. 1532 trat Morus als Lordkanzler zurück und wurde besonders auf Betreiben Anne Boleyns eingekerkert. Am 6.7.1535 wurde er nach 15 Monaten Kerkerhaft hingerichtet. 400 Jahre später sprach ihn Papst Pius XI heilig.

„Utopia“ wurde 1515 begonnen und im folgenden Jahr unter dem Titel „De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia“ veröffentlicht, also „Über die beste Verfassung eines Staatswesens und über die neue Insel Utopia“. Utopia kann sowohl Nicht-Land als auch Schön-Land bedeuten.

Die Textfassung

Das Hörbuch deckt weder Vorwort noch den ersten Teil des Buches ab, sondern lediglich jenen zweiten Teil, in dem von der Insel Utopia selbst die Rede ist. Außerdem basiert der Text auf einer Übersetzung aus dem lateinischen Original. Hier wurde also nicht der Umweg über eine englische Übersetzung beschritten, wie es zum Beispiel bei der Goldmann-Ausgabe aus dem Jahr 1987 der Fall war. Die vorliegende Übersetzung erschien 2004 im Zürcher Manesse-Verlag.

Inhalte

Die Insel der Utopier

Die Insel, etwa so groß wie England, hat ein angenehmes Klima und liegt vermutlich südlich von Europa. Sie hieß früher Abraxa, bis ihr Eroberer Utopus ihre Verbindung zum Festland beseitigen ließ. Der benachbarte Kontinent (welcher auch immer) liegt nicht weit entfernt, denn mit den dortigen Völkerschaften gibt es nicht nur Handel, sondern auch Krieg. (Krieg führte man damals meist mit Nachbarn.)

Der Naturhafen der Insel ist geschützt und nicht ohne Lotsen zu befahren, somit leicht zu verteidigen. Utopia blickt auf eine Geschichte von 1760 Jahren zurück. Unser Berichterstatter Raphael Hythlodaeus (wörtlich: „Schwätzer“) hat fünf Jahre in Amaurotum gelebt.

Über die Städte und insbesondere über Amaurotum

„Die Insel zählt 54 Städte; sie sind alle weitläufig und prachtvoll, in allen wird dieselbe Sprache gesprochen, herrschen die gleichen Sitten, gibt es die gleichen Institutionen und Gesetze, gleich ist zudem ihr Grundriß und ihre äußere Erscheinung, seit es die natürliche Beschaffenheit des Geländes erlaubt. Die einander am nächsten gelegenen Städte sind nur 24 Meilen voneinander entfernt, und keine ist so abseits gelegen, daß man aus ihr nicht in einem Tagesmarsch in einer andere Stadt gelangen könnte.

Aus jeder Stadt kommen einmal im Jahr drei Bürger, die bereits Greise sind und also über große Lebenserfahrung verfügen, in Amaurotum zusammen, um über die Angelegenheiten der Insel zu verhandeln. Diese Stadt gilt als die wichtigste und angesehenste, weil sie, sozusagen im Nabel des Landes befindlich, für die Abgeordneten aus allen Landesteilen am günstigsten gelegen ist.(…)“ (zitiert nach dem Booklet, S.3) Amaurotum bedeutet wörtlich „Dunkelstadt“.

Da alle Bürger gleichgestellt sind und es keinen Privatbesitz gibt, verteilt Amaurotum wie andere Städte Güter an bedürftige Bürger, nicht aber an Sklaven. Alle zehn Jahre müssen die Familien das Haus wechseln, dementsprechend ist die Bauweise der Häuser eingerichtet.

Über die Behörden

Die Beamten heißen Syphogranten (Schwätzer) und Traniboren sowie Princeps (der Erste). Sie bilden die Exekutive und Legislative. In allem ihrem Tun haben sie dem Staatswohl zu dienen, nicht sich selbst.

Über die Handwerker

Dazu zählen auch die Ackerbauern beiderlei Geschlechts. Die Syphogranten teilen die Arbeit zu, die maximal sechs Stunden pro Tag dauern darf. Der Schlaf sollte acht Stunden dauern, und in der Freizeit sollten sich die Utopier den Geisteswissenschaften widmen – dafür finden öffentliche Vorlesungen und Seminare statt. Nach dem Abendessen ist eine Stunde Spielen angesagt. Unfähige Studenten werden wieder zum Handwerker degradiert, aber ein eifrig studierender Handwerker kann es zum Wissenschaftler bringen und lehren.

Über den Umgang miteinander

Die Anzahl der Familienangehörigen und der Stadtbewohner ist geregelt, ihre Verteilung erfolgt je nach Bedarf, so dass es weder Über- noch Unterbevölkerung gibt. Überschüsse können in die Kolonien ausgelagert werden. Jedweder Überfluss ist verpönt und somit unwahrscheinlich. Doch wie überall auf der Welt gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land, so etwa in der Esskultur. In medizinischer Hinsicht sind die Hospitäler der Städte besser eingerichtet als die auf dem Lande.

Über die Reisen der Utopier, über das Staatsvermögen und den Umgang mit Gold

a) Reisen: Wichtig für fahrende Handwerker, aber es gibt weder Bordelle noch Bierhäuser. In dieser Hinsicht sind die Utopier, die sich wie eine einzige Familie verstehen, sehr wachsam. Wer zweimal bei einem Verbrechen erwischt wird, wird zum rechtlosen Sklaven degradiert. Immerhin gibt es keine Armut.

b) Staatsvermögen: Es gibt Bargeld, aber offenbar keinen Geldverkehr, und mithin keine Banken in unserem Sinne. Kredite und Bürgschaften kann eine Stadt an ihre Bürger vergeben. Man kann also Geld verleihen und ausländische Söldner für einen Krieg anheuern. Utopier selbst kämpfen nicht, sie lassen kämpfen.

c) Gold und Silber sind weniger wert als Eisen und ihr Besitz gilt als ein Zeichen von Schande. Selbst Perlen und Halbedelsteine gelten als Tand, ja, sogar als Kinderspielzeug. In einer schönen Episode wird vom Botschafter der Anemolier (= Windleute, eitles Volk) berichtet, der sich durch prächtigen Ornat vor den utopischen Kindern lächerlich machte, weil er Spielzeug anzog. Je mehr Gold, desto geringer der Rang, denken die Utopier.

Über Tugend und Lust

Die Utopier fragten sich: „Was soll das Glück des Menschen sein?“ Sie ziehen Philosophie und Religion als Begründung heran, doch leider gibt es gegensätzliche philosophische Richtungen. Dennoch gibt es klare ethische Grundsätze: Privatverträge sind ebenso einzuhalten wie Gesetze – dies zählt zu den Pflichten und Tugenden. Was nun die Lust angeht, so ist sie auf keinen Fall mit unserer „Wollust“ (voluptas) zu verwechseln, sondern hat vielmehr etwas mit Lebenslust zu tun. Sie ist ein angenehmer Naturzustand. Ihr Gegenteil sind: Eitelkeit (s.o.), Hochmut, Geiz, Gier, falscher Schein, falscher Wert und Raffgier.

Es gibt zwei Arten wahren Vergnügens, nämlich die des Geistes und die des Körpers. Erstere äußert sich in Tugend, die naturgemäß ist. Die zweite äußert sich im Wohlgefühl der Sinne, etwa beim Essen, aber auch im Vergnügen. Sowohl Gesundheit als auch Freude sind höchste Formen der Lust. Das Gegenteil von Lust ist Schmerz.

Über Literatur und Wissenschaft

Der Einfluss der alten Griechen ist überall bemerkbar, und der Berichterstatter selbst bringt auf seiner nunmehr vierten Seereise zahlreiche Bücher von griechischen Autoren mit. (Die „Utopia“ ist selbst eine Weiterentwicklung von Platons „Staat“ bzw. „Politeia“.)

Über Sklaven

Sie werden ebenso ausgebeutet und gehalten wie überall auf der Welt. Aber ihr Status ist meist eine Strafe, doch es gibt auch „freiwillige“ Sklaven, ehemalige Tagelöhner.

Über Krankheit und Alter

Wie schon gesagt, ist das Gesundheitswesen und die Medizin sehr gut ausgebaut. Aber die Utopier ziehen einen guten Tod einem schlechten Alter vor. Es gibt Freitod durch Fasten und Einschläfern, aber leider auch unehrenhafte Selbstmorde.

Über Ehe und Ehebruch

Eine Frau kann erst mit 18 Jahren heiraten. Begeht einer der Ehepartner Ehebruch, so wird diese Tat streng bestraft, und zwar auch an den jeweiligen Hauseltern. Eine mögliche Strafe ist die Versklavung. Da die Ehe grundsätzlich fürs ganze Leben geschlossen wird, ist es klug, sich den jeweiligen Partner vorher genau – und das heißt: auch nackt – anzuschauen. Diese Begegnungen werden diskret vermittelt. So soll eine mögliche Enttäuschung nach der Heirat vermieden werden. Auch Scheidung ist möglich (anders als bei den Katholiken des 16. Jahrhunderts).

Über Verbrechen

Nur Narren begehen Verbrechen, denn die Strafen sind – siehe oben – ziemlich hart.

Über Ämter und Gesetze

Beamte müssen unparteiisch und unbestechlich sein. Sie werden übrigens auch an „Bruderstaaten“ ausgeliehen, um dort utopische Grundsätze zu verbreiten.

Über Bündnisse

Verträge sind einzuhalten, und auch privater Vertragsbruch ist verpönt. In der Regel gehen die Utopier keine Bündnisse ein. Aber wer entscheidet, wer ein Feind, wer ein Freund ist?

Über das Kriegswesen

Der Krieg an sich wird als bestialisch abgelehnt, dennoch trainieren sowohl Männer als auch Frauen das Kriegshandwerk. Sie tun dies, um sich verteidigen zu können oder um ein anderes Land von einem Tyrannen zu befreien. Eine Beispiel dafür ist der Krieg gegen die Nephelogeten (= Wolkenbewohner) und Alaopoliten (= Volk von Blinden). Utopier setzen ein Kopfgeld auf den Feind aus: Wenige Schuldige bewahren so viele Unschuldige vor Unheil. Oder sie säen gezielt Zwietracht, um den Gegner zu schwächen.

Viele Völker sind auf diese Weise in ihre Schuld geraten. Zwecks Kriegsführung haben sie Söldner in Dienst genommen, vor allem die Zapoleten (= Leute, die sich gern verkaufen), die unkultiviert, aber stark sind. Die Utopier opfern die Zapoleten gerne, um die Welt von solchen Verbrechern zu befreien.

Über die religiösen Vorstellungen der Utopier

Diese Vorstellungen variieren von Stadt zu Stadt, aber alle Utopier verehren einen monotheistischen Gott namens Mythra, den Erzeuger.

Über die Priester und den Gottesdienst

Priester sind nicht nur Gottesdiener, sondern auch Wächter über die Moral und Lehrer der Ethik. Es gibt auch weibliche Priester, und sogar Ehen zwischen Priestern sind erlaubt. Durch den ausgeprägten Toten- und Ahnenkult sind die Verstorbenen unter den Lebenden weiterhin präsent.

Schlußbetrachtungen

Der Berichterstatter lobt die Utopier und kritisiert die Gesellschaft des 16. Jahrhunderts als voller Perversionen und als eine Verschwörung der reichen und besitzenden Klasse gegen die arme, ausgebeutete, besitzlose Klasse.

Mein Eindruck

Ist dieser Entwurf eines idealen Staatswesens möglich oder unmöglich? Daran scheiden sich die Geister, auch heute noch. „Utopisch“ – dieses abwertende Adjektiv wird verwendet für alles, was unmöglich, ja, vielleicht sogar absurd erscheint. Aber ist die Insel Utopia wirklich unmöglich? Alle Gegebenheiten sind vorhanden, ein solches Staatswesen zu schaffen – vielleicht mit Ausnahme der Sklaverei, aber auch diese existiert überall auf der Welt in versteckter Form.

Das Ideal, das Hoffnung gibt

Utopie – das ist mittlerweile die gängige Bezeichnung für ein literarisches Genre, aber es war auch mal ein politisches Ideal. Das Ideal ist dazu da, dass man nach ihm strebt, denn es gibt die Hoffnung, dass man sich ihm annähern kann. Ob sich nun das Staatsideal des Lordkanzlers von Großbritannien im Ganzen verwirklichen lässt oder nicht, ist die falsche Frage. Mag sie sich auch in Teilen umsetzen lassen – wie etwa im Sozialismus –, so ist doch der Hauptzweck des Buches die Kritik an den im Jahr 1516 herrschenden Zuständen in den westlichen Staaten, sei es im Vereinigten Königreich, sei es in Frankreich oder sonstwo. Die Schlussbetrachtung des Buches, die auch im Hörbuch enthalten ist, lässt diesbezüglich keine Unklarheiten aufkommen.

Funktioniert Utopia?

Andererseits lässt sich das entworfene ideale Staatswesen durchaus ebenfalls als solches kritisch betrachten. Mit dem in fast fünf Jahrhunderten erworbenen soziopolitischen Wissen können entsprechende Fachleute beurteilen, was von den Entwürfen des Autors funktioniert hätte und was nicht. Ehen zwischen männlichen Priestern und bürgerlichen Frauen? Ist in der evangelischen Kirche selbstverständlich. Weibliche Priester? Ebenso, und ständig in der katholischen Kirche gefordert.

Die Forderung nach unbestechlichen und unparteiischen Beamten ist ebenso alt wie die Staatswesen selbst. Diese Forderung hat Morus wahrscheinlich von seinem Vorbild Platon (4. Jahrhundert v. Chr.) übernommen, von dem sich viele Spuren in der „Utopia“ finden. So etwa auch die Dominanz des Zieles geisteswissenschaftlicher Bildung, das gleichwertig neben dem nach lohnender und erfüllender Arbeit steht. Der Besuch einer „Volkshochschule“ ist sogar vorgeschrieben – wie so vieles – und der eifrige Student kann es durchaus zum Lehrer bringen. Was die Arbeit anbelangt, so gibt es Handwerker und Landarbeiter, aber offenbar wenig Kaufleute und Händler. Kein Wunder, denn Anhäufung von Privatbesitz ist verpönt und das Horten von Gold und Silber sogar kindisch. Eine besitzende Klasse kann also schwer aufkommen. Aber das trifft vor allem für den vorindustriellen Zustand einer Wirtschaft zu – wie es unter der Arbeitsteilung aussehen mag, steht auf einem anderen Blatt. Wahrscheinlich hätte Morus dann Gewerkschaften für eine tolle Sache gehalten.

Sklaverei und Krieg

Es gibt einige Dinge, die wir heute nicht mehr witzig finden, obwohl sie doch noch der Fall sind. So ist etwa die Kaste der rechtlosen Sklaven eine feste Institution, genau wie in der Antike, und Sklavenarbeit offensichtlich ein möglicher, wenn nicht sogar notwendiger Bestandteil der utopischen Ökonomie. Warum sollte ein Modell, das 4000 Jahre lang in Ägypten, Persien, Hellas und Rom funktioniert hat, plötzlich über Bord geworfen werden?

Das andere Übel ist der Krieg. Er wird offenbar als notwendig angenommen, um Meinungsverschiedenheiten zwischen Ländern beizulegen und andere Ländern von Tyrannei zu befreien. Klingt wie ein Rezept für den Irakkrieg von 2003 und den Einsatz der UNO-Truppen in Afghanistan. Dass die Utopier in den bekriegten Ländern Söldner einsetzen und billigend in Kauf nehmen, dass diese barbarischen Leute verheizt werden, entbehrt nicht eines gewissen Zynismus. Natürlich würde niemand in der UNO oder der US-Regierung freiwillig zugeben, dass man es noch genauso macht wie vor 500 Jahren oder wie in einer gewissen „Utopia“ beschrieben.

Das Genre der Utopie

Die „Utopia“ ist der erste Staatsroman gewesen und begründete somit ein literarisches Genre. Erst rund 100 Jahre später traute sich Campanella, mit seinem „Sonnenstaat“ (1623) an die Öffentlichkeit zu treten. Der Barock war ein klein wenig toleranter als das Mittelalter, aber nur wenig, wenn es die Kirche und ihr Weltbild betraf – siehe den Fall Galileo Galilei. Es gab natürlich noch weitere Entwürfe, alle mal realistisch wie Francis Bacons „Nova Atlantis“ (1627), mal poetisch und verstiegen wie Schnabels „Die Insel Felsenburg“ (1731-43), bis hin zu Edward Bellamy (1887) und Ernest Callenbach. Zuweilen gingen Utopie-Entwurf und Abenteuergeschichte Hand in Hand, um den gebildeten Leser zu unterhalten.

Natürlich stützen sich auch die Dystopien oder Anti-Utopien auf dieses Modell: „Brave New World“ von Aldous Huxley und „1984“ von George Orwell entwerfen umfassende Gesellschaften, nicht bloß eine kleine Szene, um eine Handlung zu transportieren.

Siehe dazu auch unsere Rezensionen zu:

„1984“ „Brave New World“ bzw. „Schöne neue Welt“ „Wir“ „Die Zeitmaschine“ bzw. Hörbuchfassung zur „Zeitmaschine“ „Krieg der Welten“

Das Booklet

Das Booklet bringt jede Menge Text. Es beginnt mit einem Zitat aus dem ersten Teil, in dem ein Ich-Erzähler den Seefahrer Raphael Hythlodaeus auffordert, von der Insel Utopia zu berichten. Er beginnt seinen Bericht, der den 2. Teil ausmacht und aus dem die oben zitierte Passage angedruckt ist. Eine Illustration dazu findet sich im Booklet sowie die Landkarte von Utopia im Digipack. Dort gibt es auch das Kapitelverzeichnis, so wie ich es benutzt habe.

Darauf folgt eine Einschätzung des Buches von einem gewissen Johannes Jansen aus dem April 2005. Er beschäftigt sich mit dem Ideal, der Möglichkeit und der möglichen Umsetzbarkeit des utopischen Modells. Wesentlich hilfreicher ist da schon die Übersetzung der zahlreichen Eigennamen und Bezeichnungen. Auf dieser Doppelseite wird zum Beispiel der Fluss Anydrus auf seine griechische Wurzel „anydros“ zurückgeführt, diese übersetzt und die deutsche Bedeutung daraus abgeleitet: „Fluss ohne Wasser“. Das passt zu den anderen Namen und Bezeichnungen, welche allesamt auf Nichtexistenz hinweisen: Wolken, Wind, Blinde, Dunkelstadt, Nirgendwo usw.

Darauf folgt eine ausführliche Biografie des Autors Thomas Morus, welche recht interessant ist. Hier wird auch erklärt, wie es dazu kam, dass er die „Utopia“ schrieb, gegen König Heinrich VIII opponierte und schließlich auf dem Richtblock seinen Kopf verlor, später aber heilig gesprochen wurde.

Nachdem der Sprecher Ulrich Matthes kurz vorgestellt wurde, folgt eine abschließende Passage aus der „Utopia“, in der die Reaktion von Hythlodaeus’ Zuhörern mitgeteilt wird. Man äußert sich sehr vorsichtig, wenn überhaupt, zu seinem phantastisch anmutenden Bericht. Den Schluss des Booklets bilden die Credits der Produktion.

Unterm Strich

Der Text, den das Hörbuch von „Utopia“ bietet, ermöglicht dem Hörer die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem beschriebenen Gesellschaftsmodell. Dabei sollte man jeweils nach ein paar Kapiteln eine Pause einlegen, um geistig Luft zu holen. Denn was Morus bietet, ist doch schon recht gehaltvolle staatsphilosophische Kost. Die Sätze sind zwar einfach zu verstehen und werden klar und deutlich vorgetragen, aber was Morus vorbringt, verlangt nach Vergleichen und Nachdenken. Wer sich zu viel auf einmal zumutet, dürfte schnell einschlafen. Es gibt weder Geräusche noch Musik, die einen wieder aufwecken.

Hinweis

Das Hörbuch ist kürzlich auf der Bestenliste 4/2005 (4 ist nur eine Nummer, nicht der Monat April) der Deutschen Schallplattenkritik platziert worden. Die Vereinigung „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“ hat es sich seit 1980 zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit auf herausragende Aufnahmen des Tonträger- und Bildtonträgerangebots aufmerksam zu machen.